Dieser Artikel erschien exklusiv als Gast-Kolumne im Magazin «Direct Point» 02/2019 (www.directpoint.ch), Die Schweizerische Post. Der Autor Lorenz Wenger behält sich das Recht vor, hier die ungekürzte Version zu publizieren.
Wie oft sagen wir ja, wenn wir eigentlich nein meinen? Warum braucht es soviel Überwindung, ein klares Nein auszusprechen? Denn jedes Nein bedeutet ein Ja zu sich selbst und zu seinen eigenen Bedürfnissen. Ein Nein schärft unseren Fokus auf das uns wirklich Wichtige. Nein schafft Klarheit, Abgrenzung, Orientierung und Selbstschutz. Wer nicht Nein sagen kann, wird oft fremdbestimmt und tendiert dazu, die Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen. Chronisches Ja-sagen zehrt an den eigenen Kräften und ist ungesund. Möglicherweise sind Ja-Sager kurzfristig beliebt, doch längerfristig schaden sie primär sich selbst und ihrem Ruf: Franz-Josef-Strauss formulierte es treffend: «Everybody’s Darling is everybody’s Depp.».
Anerkennung oder Ablehnung
Gefährlich finde ich den Gehorsam, den wir Zeit unseres Lebens mit jedem Ja, antrainiert haben: Zimmer aufräumen? Ja! Hausaufgaben machen? Ja! Kompost leeren? Ja! Lehrstelle oder Studium beenden? Ja! Abendessen pünktlich um 19.00 Uhr? Ja! Sitzung am Montag um 08.00? Ja! Präsentation für den Kunden fertigstellen bis morgen? Ja, selbstverständlich und alles mit Vergnügen. Das prägt! Die Jahre ziehen dahin und plötzlich stellt man mittleren Alters fest, dass es einem schwer fällt, vor lauter Jas auch mal Nein sagen zu lernen. Von Kindheit an lernen wir, dass es eine Tugend ist, anderen zu helfen. Doch tiefgreifender ist unsere Angst vor Ablehnung, wenn wir nicht tun, was andere von uns erwarten. Dabei vergessen wir schneller als uns lieb ist, was uns wichtig ist und was wir eigentlich von uns selbst erwarten.
Spielstand Ja:Nein
Wieviele Jas sprechen wir eigentlich aus im Verhältnis zu wievielen Neins? Ein Ja zu etwas bestimmtem, bedeutet zwangsläufig auch ein Nein zu vielen anderen Optionen: wenn ich mich entscheide, in Stadtteil X zu wohnen, entscheide ich mich zwangsläufige GEGEN alle anderen Stadtteile. Wenn ich eine neue Arbeitsstelle antrete, entscheide ich mich in diesem Moment ganz bewusst gegen alle anderen Stellen. Bei der Partnerwahl wird die Sache ernst: wenn ich mich für eine bestimmte Partnerin/einen bestimmten Partner entscheide und vor dem Altar Ja sage, entscheide ich mich zwangsläufig GEGEN alle anderen Optionen (zumindest ist das in unseren Breitengraden die moralische Absicht, sich für eine Ehe zu entscheiden). Wer weiss schon, zu welchen Optionen wir mit jedem ausgesprochenen Ja überhaupt Nein sagen? Wir werden nie herausfinden, was wir mit jedem Ja verpassen. Oft bezahlen wir ein ausgesprochenes Ja zu einem Entscheid mit einer zigfacher Anzahl Neins zu allen anderen Optionen. Bei rund 20’000 Entscheidungen, die wir täglich bewusst und unbewusst fällen, kommt da eine Menge Neins zusammen. Jede Entscheidung, die wir treffen und mit einem klaren Ja beantworten, manövriert uns in eine neue Lebenssituation. Egal in welcher Situation Sie heute stehen: es ist das Resultat ihrer bisherigen Jas. Jas sind also wegweisend, entscheidend und bestimmen unsere Lebensqualität. Falls uns ein bestimmter Bereich in unserem Leben nicht passt, ist es einzig und alleine einem oder mehreren Jas aus der Vergangenheit zu verdanken.
Nein zum Status Quo
Falsche, nicht ernst gemeinte oder unbewusste Jas können fatale Folgen haben, die wir uns nicht wünschen. Sollten wir also nicht viel öfter und bewusster Nein sagen? Nein zum Status Quo, nein zu «Kann man nichts machen.», nein zu «Ist halt so.», nein zu «Haben wir schon immer so gemacht», nein zu «Aufschieberitis», nein zur Komfortzone, nein zu Dogmen, nein zu «Nein-Sagern»? Meine Einladung und persönliche Challenge: Mehr Mut zum Nein, mehr Ja zur persönlichen Entscheidungsfreiheit!
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