Dieser Artikel erschien exklusiv als Gast-Kolumne im Magazin «Direct Point» 01/2023 Juni 2023 (www.directpoint.ch), Die Schweizerische Post. Der Autor Lorenz Wenger behält sich das Recht vor, hier die ungekürzte Version zu publizieren.
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Mehr Mut zur Qualität
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Geschäftsreise in einer fremden Stadt und fühlen sich gut vorbereitet auf den Pitch morgen Vormittag bei Ihrem potenziellen Kunden. Bevor Sie zur Nachtruhe in Ihr Hotelzimmer verschwinden, begeben Sie sich auf einen Schlumi an die Hotelbar. Dort sitzt bereits eine unbekannte Person, die Sie fasziniert. Wie kommen Sie mit ihr in Kontakt? Sie entscheiden sich spontan dazu, sich ihr frivol tanzend anzunähern und dabei lautstark Ihren Vornamen zu brüllen. Sie setzen sich auf den Barhocker direkt neben diese Person, vereinnahmen sie mit Ihren schlagkräftigen Parolen, was sie alles können, tun und bereits erreicht haben. Sie kleckern die Person voll und verabschieden sich nach zwei Drinks nicht leiser, als Sie sie begrüsst haben. Vermutlich hinterlassen Sie mit Ihrem invasiven Auftritt einen nachhaltigen Eindruck. Doch wie steht es um die Qualität dieses Kontaktes?
Hoffnung und Verzweiflung
In den sozialen Netzwerken kleckern mich genauso ungefragt einige Anbieter mit ihren Angeboten voll, als würden sie sich auf ihrer virtuellen Geschäftsreise an der Bar der Direktnachrichten enthemmt auf mich stürzen: «Ist IT-Sicherheit für Sie ein Thema?», «Bestimmt hat die Gesundheit Ihrer Mitarbeitenden auch bei Ihnen höchste Priorität.», «Ich verhelfe Unternehmern zu 7-stelligen Umsätzen», «Solltest du Fragen haben zu…». Kaum persönlicher Bezug und weder auf meine Situation noch auf meine Bedürfnisse oder auf mein Geschäft eingehend. Sogar eine Sprachnachricht mit einem Zuchtorchideen-Angebot ist mit dabei. Das Vertrauen ist hin, bevor es aufgebaut wurde. Mittlerweile beantworte ich die Nachrichten nicht mehr, es sind zu viele geworden. Offensichtlich haben sich die lautstarken Marktschreier auch nicht nur eine Minute mit mir und meinem Business auseinandergesetzt.
Geht es Ihnen auch so? Was gewinnen Sie für einen Eindruck des Absenders, sobald Sie feststellen, dass Sie ein angeschriebener Kontakt unter wohl Tausenden sind und die Botschaft kaum etwas mit Ihnen und Ihren aktuellen Geschäften zu tun hat? Doch die «Strategie der grossen Zahl», bei welcher möglichst viele unbekannte Kontakte kalt angeschrieben werden, scheint dank der automatisierten Unterstützung durch Bots und KI zu funktionieren. Sonst hätte ich wohl kaum hunderte solcher Bar-Begegnungen. Doch wie viele Kontakte braucht es, bis es tatsächlich zu einem Deal kommt? Und welchen Eindruck hinterlässt ein solches Vorgehen bei allen Nicht-Käufern? Ist es noch Hoffnung oder schon Verzweiflung, die diesen Prozess befeuert?
Ein Hoch auf Qualität
Während ich diese Zeilen schreibe, erreicht mich die E-Mail eines Anwalts des verstorbenen Öl-Moguls namens Wenger und angeblich entfernten Verwandten. Sobald ich meine Kontodaten sende, würde mir seine Erbschaft in Millionenhöhe überwiesen. Für mich ist heute Schluss! Ich habe mich Stunden und Tage mit meinem potenziellen Kunden auseinandergesetzt und fühle mich qualitativ gut vorbereitet für den Pitch morgen Vormittag. Ich gehe jetzt runter in die Hotellobby an die Bar und trinke darauf noch einen Schlumi. Alleine!
Bildquelle: QUI NGUYEN auf Unsplash